Gelassen durch den täglichen Wahnsinn – Pendler-Survival-Guide #1

Aus soziologischer wie ethnologischer Perspektive gibt es kaum Interessanteres als eine nähere Betrachtung der Menschen, die täglich zu Millionen auf den heimischen Straßen- und Schienenwegen unterwegs sind. Denn Pendler erleben Dinge, die jeder Rationalität, teilweise sogar Naturgesetzen, zuwider zu laufen scheinen. Es handelt sich um epische Abenteuer, von denen Normalsterbliche sonst nur träumen können. Und doch ist es auch jedesmal ein Kampf – daher gibt es hier ein paar Tipps, wie sich das Dasein als pendelnder Zeitgenosse so angenehm wie möglich gestalten lässt – mit einem Augenzwinkern und der nötigen Portion Humor und Geduld.

Das Pendlerland – terra incognita

Deutschland ist Pendlerland. Mehr als 12 Millionen Deutsche pendeln Tag für Tag zu ihrem Arbeitsplatz. Die Strecken, die sie dabei zurücklegen, werden immer weiter. Ob mit Bus, Bahn, Auto oder Rad, Pendeln ist oft stressig und auf jeden Fall mit zeitlichem und finanziellem Aufwand verbunden. Seit dem Beginn meines Berufslebens vor einigen Jahren gehöre auch ich zu der Spezies der Pendler, einer Gruppe, über die trotz aller wissenschaftlicher und journalistischer Abhandlungen noch recht wenig bekannt ist. Das Pendlerland ist quasi gleichzeitig auch terra incognita – höchste Zeit, das zu ändern.

Pendler werden die Frage kennen: Wie vertreibt man sich die Zeit auf dem Weg zur Arbeit? Will man sie beantworten, lässt sich sogar für den Laien erkennen, dass es unterschiedliche Spezies von Pendlern gibt. Zu welcher Sorte man selbst wiederum gehört, ist auch davon abhängig, wie und mit welchem Verkehrsmittel man zu seinem Arbeitsplatz gelangt. Dabei bin ich immer wieder froh, mit dem Zug unterwegs zu sein und nicht mit dem Auto fahren zu müssen. So bleiben mir Staus erspart, und auch Lesen ist während des Führens eines Fahrzeugs nicht möglich. Oder schreiben wir es so, möglich wäre Lesen während der Fahrt schon, es wird aufgrund ernsthafter Sicherheitsbedenken aber eher davon abgeraten. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Rechtsanwalt oder Polizeikontaktbeamten. Zumindest bis zu dem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft, zu dem selbstfahrende Autos ein entspanntes Nickerchen oder das Schmökern in einem guten Buch zulassen, sind meine autofahrenden Pendlergenossen also auf Unterhaltung auditiver Art beschränkt – seien es Hörspiele, Podcasts oder laute Musik. Letztere bietet den zusätzlichen Vorteil, dass man beim Mitgrölen gut wach werden kann.

Reist man mit der Bahn, bieten sich ungleich mehr Varianten der Unterhaltung. Lautes Singen jedoch wird von den meisten Mitreisenden als störend empfunden und scheidet daher als Zeitvertreib aus. Ansonsten gibt es aber zahlreiche hervorragende Möglichkeiten, die Reisedauer von A nach B produktiv oder aber auch gerne mal vollkommen sinnfrei, dafür aber unterhaltsam, zu nutzen.

Homo sapiens pendleris

Je nachdem für welche der ausstehenden Varianten Du Dich entscheidest, lassen sich verschiedenste Typen von Pendlern identifizieren. Zunächst wäre da der visuelle Typ, der auf Handy, Tablet oder Laptop seiner Seriensucht frönt und die Vorzüge von Netflix und Co. auch unterwegs zu nutzen weiß. Auch die Spezies, die ich liebevoll die „Candycrusher“ nenne, sind immer häufiger in Zügen, S- und U-Bahnen hierzulande anzutreffen. Sie spielen unermüdlich auf ihren Geräten als ginge es um Leben und Tod – bis der kleine Bildschirm ihres Gerätes qualmt. Da bei derlei Betätigungen kognitive Prozesse trainiert werden und das logische Denkvermögen geschult wird, möchte ich diesem Zeitvertreib aber keinesfalls seine Daseinsberechtigung absprechen.

Die Menschen schließlich, die sich miteinander unterhalten (und das nicht mithilfe technischer Geräte, sondern von Antlitz zu Antlitz) scheinen immer weniger zu werden. Beim „Sprechen“ handelt sich übrigens um eine faszinierend archaische Kommunikationstechnik, die schon von unseren Urahnen in grauer Vorzeit genutzt wurde, als noch Säbelzahntiger und Mammut das Leben zu einem natürlichen (und oft recht kurzen) Abenteuer machten. Sich unterhaltende homo sapiens stellen folglich eine etwas anachronistische und zunehmend vom aussterben bedrohte Gruppe dar, die schon fast einen Exotenstatus hat. Außerdem gibt es noch die Menschen, die verträumt aus dem Fenster schauen, die Landschaft an sich vorüberziehen lassen und dabei wahrscheinlich über Gott und die Welt sinnieren.

Und natürlich sind da noch die Leser, ebenfalls eine Gruppe mit ganz klar historischer Bindung – schließlich ist Lesen eine uralte Kulturtechnik, die ich aufgrund meines Berufes und meiner unbestreitbaren Leidenschaft für Literatur gerne romantisch verkläre – und mit der ich mich voll und ganz identifizieren kann.

Weltuntergang? Ohne mich!

Bei einem guten Buch, wie Paul Austers „4 3 2 1“, versinke ich so sehr in der Geschichte und im Leben des Protagonisten Archibald Ferguson, dass ich nichts mehr mitbekomme. Die Welt könnte untergehen, ohne dass ich es wirklich bemerken würde. Anarchie und Chaos dringen nur in mein Bewusstsein vor, wenn sie Teil des Buches sind. Die Gruppe aufgedrehter Schulkinder etwa, die am anderen Ende des Abteils Lehrer und Betreuungspersonal in den Wahnsinn treibt, blende ich vollkommen aus. Derweil hat die Horde Heranwachsender in einem Anflug aus beneidenswerter Kreativität und überraschendem Einfallsreichtum leere, plattgedrückte Trinkpäckchen zu Frisbees umfunktioniert, die sie nun sehr zum Unbehagen anderer Reisender durch die Gänge werfen. Ebenso unbemerkt bleibt für mich der laut telefonierende Krawattenträger zwei Plätze weiter, der enthusiastisch die gesamte Business-Strategie samt Planzahlen seines Unternehmens detailliert darlegt. Dies alles betrifft mich höchstens peripher, ich folge dem heranwachsenden Archibald Ferguson durch die turbulenten 1960er-Jahre in den USA. Gekonnt verwebt der Autor Paul Auster dabei die Geschichte Amerikas mit jener seines Protagonisten: Der junge Ferguson ist schockiert von der Ermordung John F. Kennedys und ist wenige Jahre später bei den Protesten gegen den Vietnamkrieg dabei. Ein einmaliger und interessanter Einblick in eine vergangene Epoche, fiktive Charaktere vor realem Hintergrund …

… Aber ich schweife ab. Ein gutes Buch kann dafür sorgen, dass die Welt um uns herum langsam ihre Konturen verliert und die Geräusche in den Hintergrund treten und schließlich ganz verschwinden. Das macht für mich die Magie der Bücher aus, man kann an einem Ort sein und doch gleichzeitig ganz woanders. Das hat zugegebenermaßen, gerade bei der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln, auch seine Tücken. Wenn ich nicht aufpasse und mich zu sehr in der Geschichte verliere, finde ich mich auf dem Nachhauseweg unversehens in Ulm wieder statt in Augsburg. Sicherlich auch ein schönes Plätzchen Erde, allerdings ohne die Möglichkeit zur Übernachtung in den eigenen vier Wänden.

Pendelzeit ist Lesezeit

Bei artgerechter Handhabung des Lesemediums handelt es sich jedoch um eine wunderbare und entspannende Art und Weise, Freizeit und Arbeitsweg zu kombinieren. De facto bin ich mittlerweile zum überzeugten Pendler geworden. Nicht, dass ich ein Problem damit hätte, wenn der Arbeitsweg etwas kürzer wäre, aber ganz auf das Zugfahren verzichten? Schwer vorstellbar. Denn angesichts unserer chronischen Zeitknappheit können wir genau diese Zeit im ÖPNV als Auszeit nutzen. Zuhause könnte ich Wäsche waschen, kochen, den Platten an meinem Rad flicken, durstende Zimmerpflanzen gießen oder endlich das Regalbrett anbringen, das seit drei Wochen vorwurfsvoll in einer Ecke steht. Kurz: Unbegrenzte Möglichkeiten. Im Zug hingegen sind die Möglichkeiten auf ein überschaubares Maß zusammengeschmolzen, und so lese ich tiefenentspannt in meinem Buch. Diese Auszeit möchte ich tatsächlich nicht mehr missen. Und wenn die Fahrt mal wieder etwas länger dauert, freue ich mich sogar darüber, so bleibt mehr Zeit zum Lesen!