Darüber spricht man nicht! Oder etwa doch?

Es gibt viele Dinge in Bezug auf unseren Körper, die uns peinlich sind. Diese werden jedoch in der Öffentlichkeit weitgehend totgeschwiegen. Dies berichtet auch die renommierte Hautärztin Dr. Yael Adler. In ihrem Bestseller „Darüber spricht man nicht“ sowie in ihrem Alltag als Ärztin und als Gesundheitsexpertin für verschiedene Zeitschriften und TV-Shows befasst sie sich mit genau den Themen, die uns die Schamesröte ins Gesicht treiben. Wir haben sie interviewt, um zu erfahren, was die Menschen beschäftigt und wie wir einen gesünderen und entspannteren Umgang mit unserem Körper erreichen können.

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1. Wenn Sie sich kurz vorstellen könnten, wer Sie sind und was Sie auf die Idee gebracht hat, das Buch „Darüber spricht man nicht“ zu schreiben. Welche Botschaft möchten Sie den Lesern Ihres Buches vermitteln?

Ich habe das Buch (A.d.R.: „Darüber spricht man nicht“) geschrieben, weil ich tagtäglich in meiner Sprechstunde sehe, wie Menschen mit sich und ihrem Körper fremdeln. Als Ärztin ist es mein Ziel, Patienten gesund zu machen. Dabei stehen oftmals Tabus, unausgesprochene Probleme und Schamgefühle der Heilung im Weg.

Ich möchte Menschen ermutigen, offen über ihre Probleme zu sprechen, auch wenn sie ihnen peinlich sind – sie sollen wissen, dass Ärzte all das schon gesehen haben. Uns ist nichts fremd, und man ist sicher nicht der Einzige, der dieses Problem hat.

Ich wünsche mir, dass Menschen ihren Körper kennen und verstehen – ich finde, das ist ein Grundrecht. Neben meiner Sprechstunde und den Büchern versuche ich auch durch meine Medienarbeit die Menschen zu erreichen.

2. Hat es in der Zeit, seit Sie Ärztin geworden sind, eine Veränderung gegeben in Hinsicht auf das eigene Körperbild und die Körperwahrnehmung Ihrer Patienten? In Zeiten allgegenwärtiger Freizügigkeit im Netz sollte man ja meinen, dass den Menschen so schnell nichts peinlich ist ...

Gegenüber ihrer vermeintlichen Makel sind die Menschen nicht offener geworden. Die Freizügigkeit im Netz hat eher dazu geführt, dass Menschen falsche Maßstäbe vorgespielt bekommen und nun denken, dass ihr Körper nicht in Ordnung sei. Die Bilder in den Sozialen Medien sind jedoch fast alle digital verändert. Gerade bei Instagram wird der Umwelt häufig eine verfälschte bzw. geschönte Realität gezeigt. Wir haben es in diesem Fall also mit falschen Idealen, mit puppenhaften Körpern und Gesichtern zu tun. Darüber hinaus verlieren Menschen den Bezug zu ihrer Körperlichkeit, zu dem, wie sie riechen, wie sie funktionieren, was ursprüngliche Körperfunktionen sind – von der Geburt über das Stillen und die Körperpflege bis hin zur Sexualität.

Daher habe ich im Moment eher das Gefühl, ja, die Freizügigkeit im Netz ist groß und Pornographie zum Beispiel ist für jeden zugänglich, aber die WAHRE Gesundheit und das Wissen darüber, wie man selber funktioniert, kommt dabei zu kurz.

3. Gibt es geschlechterspezifische „Lieblingstabus“ und um welche handelt es sich Ihrer Meinung nach?

Ein Männertabu ist natürlich die Erektionsstörung. Bis zum Alter von 40 Jahren hat diese oft psychische Gründe, danach ist sie durchaus auch organisch bedingt, also ein ernstes Alarmzeichen. Man sagt, die Erektion ist die Wünschelrute des Herzens und kann somit auf einen drohenden Herzinfarkt oder Schlaganfall hinweisen.

Außerdem ist das Schnarchen für Männer eine große Peinlichkeit. Ich mache immer wieder journalistische Berichte für das Fernsehen, und habe Patienten, die bereit sind über ihre Probleme, Leiden, Krankheiten zu sprechen. Dabei ist aber nie jemand, der über sein Schnarchen berichtet. Es wird verdrängt und das liegt daran, dass die Männer Jäger sind und Kontrolle haben wollen. Wenn sie dann schlafen und solche unkontrollierten, uncharmanten Geräusche machen, erinnert sie das auch an das Altern – es ist für sie also eine Kränkung und potentiell ein Verlust von Gesundheit. Das wollen sie so natürlich nicht zugeben und lassen dieses Körpersignal häufig unter den Tisch fallen.

Frauen ist alles, was dreckig ist oder stinkt – also Verdauung, Pupse, Körpergeruch – furchtbar peinlich. Ihnen wird sehr, sehr früh schon beigebracht, dass sie immer duftig und sauber sein sollen, weiß und rein. Das hat sicherlich auch religiöse Hintergründe, die sich im Laufe der Zeit verselbstständigt haben.

Ein weiteres großes Tabuthema bei Frauen ist Haarausfall, weil schöne dichte/ glänzende Haare ein Zeichen für Weiblichkeit, Vitalität und Fruchtbarkeit sind. Ausfallendes Haar ist ein großes Stigma und stellt sie dann als Frau in Frage.

4. Was war für Sie das spannendste/lustigste/interessanteste Tabuthema, auf dass Sie bei der Arbeit an Ihrem Buch gestoßen sind?

Das eigentlich amüsanteste Tabuthema habe ich im Kapitel zum kleinen Hoden-Ei-Mal-Ei aufgearbeitet. Ich habe hier verschiedene interessante Fakten über diesen wichtigen Teil des männlichen Geschlechts beschrieben. Auf meiner Lesereise habe ich festgestellt, dass ich den Männern dazu noch ganz viel sagen kann, was sie noch nicht wussten – das ist mit vielen Aha-Erlebnissen verbunden.

Ein ebenfalls wichtiges und oft nicht besprochenes Tabuthema ist der Anus. Ich merke wirklich, dass die Leute total froh sind, dass man endlich mal diesen schattigen und versteckten Bereich anspricht, denn da haben wirklich sehr viele Leute ein Problem.

In den Medien ist ja das Thema Reizdarm im Moment sehr aktuell – auch das wird von mir behandelt. Als Hautärztin muss ich mich regelmäßig damit auseinandersetzen, weil viele mit der Vermutung zu mir kommen, sie hätten eine Lebensmittelallergie und ich soll sie daraufhin untersuchen, was sich meist nicht bestätigt. Vielmehr lautet die Diagnose sehr oft Reizdarm. Auch weil viele Hauterkrankungen über eine gesunde Darmflora zu verbessern sind, bin ich mittlerweile eine richtige Darmspezialistin geworden. Da habe ich das Gefühl, dass die Leute wahnsinnig dankbar sind, endlich mal konkrete Tipps zu bekommen, wie man Verdauungsprobleme loswerden kann, denn die Medikamententherapie hilft da nicht. Man kann einen Reizdarm aktuell nur ganzheitlich über eine sinnvolle Ernährung, Stressabbau, Bewegung und den gezielten Aufbau einer gesunden Darmflora behandeln. Da bin ich ganz in die aktuelle Wissenschaft eingetaucht, gebe auch Ernährungstipps, da ich ja auch als Ernährungsmedizinerin tätig bin.

5. Und anschließend an die vorherige Frage: Sind Sie beim Schreiben des Buches auch auf persönliche Tabuthemen gestoßen? Wenn ja, welche?

Ich habe natürlich auch wie jeder Mensch persönliche Tabuthemen. Besonders als junge Frau war das der Gang auf die Toilette auf einer Liebesreise mit einem tollen Mann im Hotel. Das betrifft ganz viele Frauen und ist sehr repräsentativ: Wie geht man damit um, dass man womöglich aufs Klo geht und da keine Rosenblätter macht?

6. Was war Ihnen zuletzt peinlich?

Im Zusammenhang mit meiner Lesereise ist mir auch etwas sehr Unangenehmes passiert: Ich war eingeladen bei Jörg Pilawa um ausgerechnet über Duftmarketing zu sprechen. Ich bemerkte die großen Schweißflecken erst, als ich die Arme hochhob und er etwas entsetzt in meine Achseln starrte. Da wusste ich natürlich, dass die Zuschauer das jetzt auch sahen, und habe mir überlegt, ob ich die Demonstration abbrechen soll oder ob ich mit gutem Vorbild voran gehe und zeige, auch ich bin ein Mensch und wenn es heiß ist im Studio, dann schwitze auch ich.

Ich würde von mir behaupten, ich kann sehr gut mit Tabuthemen anderer umgehen, weil auch ich, wie wir alle, davon betroffen bin und mich gut einfühlen kann.

6. In Ihrem Buch schreiben Sie, „der größte Schritt in einer Beziehung ist nicht der erste Kuss, sondern der erste Furz”. Was raten Sie (jungen) Paaren im Umgang mit diesen und anderen weitgehend totgeschwiegenen Themen?

Der Umgang mit Peinlichkeiten in einer Beziehung, in der man sich liebt, ist wahrscheinlich noch relativ einfach, da man respektvoll und wohlwollend miteinander umgeht.

Wenn es zum Beispiel um das Thema Morgenkuss mit Mundgeruch geht, sagt man dann natürlich nicht grob „du stinkst“, sondern versucht sanft anzusprechen, dass man das Gefühl hat, dass der Partner oder die Partnerin keinen frischen Atem hat. (Bei diesem Problem könnten übrigens Zahnärzte helfen.)

Letztlich geht es darum, jemanden wohlwollend, liebevoll und respektvoll anzusprechen. Auch Humor und gemeinsam über etwas Peinliches zu lachen hilft in vielen Situationen. Lachen verbindet, baut Ängste ab, entspannt und ist somit manchmal tatsächlich die beste Medizin.

7. Glutenfrei, laktosefrei und Co., Lebensmittel, die uns eine Minderung unserer Leiden versprechen liegen im Trend. In Ihrem Buch erwähnen Sie, dass „20 Prozent der Bevölkerung annehmen, sie litten unter einer Nahrungsmittelallergie, in Wahrheit trifft das aber nur auf rund drei Prozent der Erwachsenen zu”. Wie erklären Sie sich diese erhebliche Diskrepanz zwischen Gefühl und Realität?

Es ist so, dass Nahrungsmittelunverträglichkeiten gerade auch ein bisschen schick sind. Zudem bekommt man damit mehr Aufmerksamkeit und sensible Zuwendung. Es wird natürlich auch von der Industrie beworben, dass es jetzt verschiedene Nahrungsmittel für verschiedene Verdauungsbeschwerden gibt.

Außerdem beschäftigt Menschen das Thema Darm und Verdauung einfach – wir sind auch durchaus stolz auf unsere Verdauung, unsere Exkremente und Ausscheidungen. Das haben wir in unserer analen Phase gelernt, dass das toll ist, wenn wir Kacki ins Töpfchen machen. So ist also dieses Thema Verdauung und Stuhlgang ein interessantes Thema für uns, ein Teil der analen Phase, den wir bis heute zurückbehalten haben.

Bei Unverträglichkeiten handelt es sich nicht zwingend um Allergien, einen Enzymmangel wie bei Laktoseintoleranz oder um eine Autoimmunerkrankung wie die Zöliakie. Es kann auch eine Reaktion auf den Verlust an Vielfalt von Bakterien im Darm sein und auf die durch Pestizide, Konservierungsmittel, Zucker, zu viel Salz, weißes Mehl und durch industriell veränderte Nahrung. Und das hilft nicht gerade bei der Verdauung.

Wir nehmen also nicht mehr so viele Mikronährstoffe und Ballaststoffe zu uns. Wir haben Stress, auch psychische Probleme oder Bauchschmerzen und vertragen ganz viele Nahrungsmittel nicht. Die Darmschleimhaut wird quasi löchrig, das Immunsystem des Körpers kriegt zu intensiven Kontakt zu unverdauten Nahrungspartikeln, und es kommt zu einer Art Entzündungsreaktion oder Überempfindlichkeit der Schleimhaut und Darmnerven. Da muss man ansetzen. Wir müssen also evolutiver essen und überlegen, was in der Steinzeit aktuell war, und so dem Darm helfen. Das kann man auch mal mit Prä- und Probiotika aus der Apotheke unterstützen. Außerdem sollten wir unseren Lebensstil anpassen, uns viel bewegen und ausreichend trinken.

Man kann also festhalten, viele Menschen haben Bauch-Beschwerden, aber es ist eben nur in wenigen Fällen eine Allergie.

8. Bei Ihnen landen auch immer wieder PatientInnen, die vollkommen gesund sind, Ihre Körperfunktionen aber dennoch als „nicht normal“ wahrnehmen. Wie kommt es dazu und wie ließe sich das ändern? Was wünschen Sie sich im Umgang der Menschen mit körperlichen Themen?

Oft haben Patienten die vollkommen gesund und auch schön sind, eine Störung ihrer eigenen Körperlichkeit und der Wahrnehmung ihres Körpers. Es handelt sich dabei um psychische Probleme: Sie hadern mit ihrem Aussehen und sind sehr fixiert auf vermeintliche Makel. Gerade in der Dermatologie sind psychische Probleme sehr präsent, und solche Probleme können dann auch Hautveränderungen hervorbringen. Ein wichtiger Aspekt dabei ist unsere gesellschaftliche Überhöhung eines makellosen, puppenartigen Körpers und damit verbunden falsche Schönheitsideale, die suggeriert werden. Die Erziehung und Gesellschaft spielen dabei eine große Rolle.

9. Wie entspannen Sie, wenn Sie mal von Ihrem Alltag als Medizinerin abschalten wollen?

Ich entspanne vor allem beim Sport, besonders gerne mache ich Pilates oder gehe Joggen, und wenn ich Zeit mit meiner Familie verbringe. Auch Schlafen finde ich eine ganz wundervolle Möglichkeit, um zu entspannen und wieder fit zu werden.

10. Welches Buch oder welche/r SchirftstellerIn beeindruckt Sie besonders?

Tatsächlich lese ich am liebsten Sachbücher zu den unterschiedlichsten Themen wie Psychologie oder Biochemie. Es macht mir einfach Spaß, beim Lesen neue Dinge zu lernen und diese haben auch sehr oft mit Medizin zu tun. Mag sein, dass ich da ein bisschen besessen wirke, aber ich finde es wundervoll dadurch neue Erkenntnisse und Puzzleteile für das große Ganze zu finden. So habe ich im letzten Urlaub ein dickes Buch über Mitochondrien gelesen, das sind unsere Zellfabriken, und das hat mich dann wieder für die Arbeit mit den Patienten inspiriert.

Offen und entspannt statt verschämt und geheim

Als Fazit lässt sich also festhalten, dass uns ein entspannterer und offenerer Umgang mit körperlichen Tabuthemen sehr gut täte. So sehr uns das Bild von Stars in der Öffentlichkeit auch das Gegenteil suggeriert, niemand hat einen perfekten und makellosen Körper. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, sich mit dem eigenen Körper auseinanderzusetzen und zu verstehen, wie der menschliche Organismus funktioniert. Auch ein offener und respektvoller Umgang untereinander hilft dabei, sich so anzunehmen wie man ist. Yael Adler schafft es mit „Darüber spricht man nicht“ in ebenso informativer wie humorvoller Weise, über den eigenen Körper und seine Geheimnisse aufzuklären. Sie zeigt, dass wir unsere Scheu vor Tabuthemen überwinden sollten und trägt mit ihrem aufgeklärten und höchst unterhaltsamen Buch dazu bei, Ängste abzubauen und zu einem gesunden Körpergefühl zurückzukehren.

Wenn Du mehr zum Thema erfahren willst, wirf doch mal einen Blick in Dr. Yael Adlers Bücher:

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